Wald: Der Laubmischwald als Beispiel für ein Ökosystem

Wald: Der Laubmischwald als Beispiel für ein Ökosystem
Wald: Der Laubmischwald als Beispiel für ein Ökosystem
 
Ein natürlicher, sommergrüner Laubmischwald unterscheidet sich in mancherlei Beziehung von den in Mitteleuropa meist forstwirtschaftlich überformten Wäldern. Ein ursprünglicher Laubmischwald besitzt kein einheitlich hohes Kronendach, weil der Wald aus vielen verschiedenen Baumarten unterschiedlichsten Alters gebildet wird. Die Bestandsdichte wechselt erheblich, sodass der Naturwald keinen einheitlich gestalteten Lebensraum darstellt. Auf dem Boden des Naturwalds liegen vermodernde Stämme umgestürzter Bäume, die von Moosen, Pilzen und Flechten überwuchert werden. Je dichter sich die Vegetation im Wald drängt, desto spärlicher sind die Populationen von Großwild. Vögel und andere kleine Tiere, auch die am Boden lebenden Organismen, können dagegen größere Populationen aufbauen als in modernen Nutzwäldern.
 
Die niedrigen Wintertemperaturen erzwingen auch bei den Gehölzen einen Wachstumsstillstand, der sich bei den oberirdischen und unterirdischen Organen unterschiedlich äußert: Der Spross legt dauerhafte, frostsichere Überwinterungsknospen an, die eine endogen bedingte Ruhepause durchlaufen. Die Wurzeln haben dagegen keine endogen bedingte Ruheperiode, stellen aber das Wurzelwachstum ein, sobald die Bodentemperatur unter den Gefrierpunkt sinkt. Wird es wärmer, können die Wurzeln auch im Winter weiterwachsen. Im Frühjahr, besonders in der Zeit, wenn das Laub der Bäume noch nicht ausgetrieben ist und die Sonenstrahlen noch bis auf den Waldboden gelangen, erwärmt sich die Streuschicht deutlich über die Umgebungstemperatur und ermöglicht damit frühzeitig die Entwicklung krautiger Pflanzen, die mit Knollen oder Zwiebeln (Scharbockskraut, Märzenbecher) oder mit Wurzelstöcken oder Rhizomen (Maiglöckchen, Buschwindröschen) in der Erde überwintert haben. Solche Pflanzen, die man wissenschaftlich als Geophyten bezeichnet, absolvieren bis zum Abschluss der Belaubung der Bäume ihren vollständigen Entwicklungszyklus einschließlich Blüte und Fruchtbildung.
 
Mit zunehmender Belaubung der Bäume wird die Photosyntheseaktivität im Wald von den Bodenpflanzen in die Baumkronen verlagert, womit auch die Hauptnahrungsquelle des Ökosystems vom Boden in die Baumkronen wandert. Dennoch erlischt das Pflanzenleben am Boden nicht völlig. An die Stelle der stärker sonnenbedürftigen Geophyten treten nun ausgeprägte Schattenpflanzen wie der Sauerklee, der selbst noch bei sehr geringen Lichtintensitäten einen bescheidenen Photosyntheseüberschuss erzielt. Diese extreme Anpassung wird durch spezielle Baumerkmale der Blätter im Zusammenspiel mit besonderen stoffwechselphysiologischen Eigenschaften des Photosyntheseapparats und der Zellatmung ermöglicht.
 
Im Spätsommer wird der Blattfall durch Anlage von kleinzelligen Trennzonen am Blattgrund vorbereitet, sodass im Herbst bei kürzer werdenden Tagen und sinkenden Nachttemperaturen der Laubabwurf und häufig auch der Fruchtfall eingeleitet werden. Innerhalb von vier bis sechs Wochen regnen nunmehr drei bis fünf Tonnen Laub pro Hektar (gemessen als Trockenmasse) auf den Boden, das vom Edaphon in zwei bis drei Jahren in Humus umgewandelt, jedoch noch nicht vollständig abgebaut wird. Während dieser Phase bilden viele Pilze ihre Fruchtkörper aus, womit die oberirdisch sichtbaren Hüte gemeint sind, an deren Unterseite Fortpflanzungszellen in Form von Sporen gebildet werden. In dieser Zeit können immergrüne Pflanzen wie Efeu und Haselwurz die erhöhte Sonneneinstrahlung am Waldboden für ihr Wachstum nutzen. Der Efeu blüht erst jetzt und lässt seine Früchte während des Winters reifen.
 
 Auch die Tiere passen sich dem jahreszeitlichen Temperaturwechsel an
 
Dem saisonalen Temperaturwechsel und dem unterschiedlichen Erscheinungsbild der Pflanzen passt sich auch die Tierwelt an. Im Winter halten einige Säugetiere Winterschlaf (wie Igel und Siebenschläfer), andere halten Winterruhe, die aus mehreren längeren Schlafperioden besteht (wie Eichhörnchen und Dachs). Nur wenige Säuger bleiben winteraktiv, so zum Beispiel Reh und Rothirsch. Beide Arten können insbesondere in schneereichen Wintern erhebliche Schäden an Bäumen und Sträuchern verursachen, weil deren feine Zweigspitzen und die Borke der Stämme dann die einzig verfügbare Nahrungsquelle sind. Von den im Wald lebenden Vogelarten zieht der größte Teil, vor allem die Insektenfresser, in mildere Klimazonen (Zugvögel), ein Teil übersiedelt in Städte mit ihren im Vergleich zum Wald höheren Temperaturen und ihren besseren Futterangeboten, und nur wenige Arten halten den Winter im Wald durch (Standvögel) wie zum Beispiel die Meise und der Dompfaff.
 
Schnecken, Spinnen und Insekten sterben entweder im Herbst ab und lediglich ihre Eier, Larven oder Puppen überwintern, oder sie verfallen in eine Winterstarre. Nur im Boden, unter der als Isolierschicht wirkenden Laubstreu, bleiben einige Insekten und Spinnen winteraktiv, wenn auch bei deutlich verminderter Stoffwechsel- und Bewegungsaktivität. Die typische Bodenfauna, wie Springschwänze, Milben und Regenwürmer, wandert tiefer in den Boden ein, Regenwürmer beispielsweise bis zu einem Meter tief. Ihnen folgen die Maulwürfe. Bei der Einwanderung oberirdisch lebender Tiere in den Boden und beim Einwandern von Bodentieren in tiefer liegende Schichten wird ein Teil der Laubstreu in den Boden eingearbeitet, womit diese Wanderungen eine ökologische Bedeutung für das Gesamtsystem erhalten.
 
 Im Frühjahr erwacht der Wald zu neuem Leben
 
Im Frühjahr aktiviert die sich erwärmende Laubstreu (Frühbeeteffekt) nicht nur die Geophyten unter den Pflanzen, sondern auch die im Boden überwinternden Tiere. Aus Puppen schlüpfen Insekten, die nun den Boden verlassen, um ihre angestammten Lebensräume im Wald einzunehmen. Dabei werden bis zu 70 Prozent der frisch geschlüpften Insekten von räuberisch lebenden Insekten und Spinnen im Boden als Nahrung verwendet. Über der Erdoberfläche warten Insekten fressende Vögel auf die wieder erwachende Bodenfauna. Mit der Belaubung von Bäumen und Sträuchern wandern Pflanzensaft saugende und blattfressende Insekten in die Baumkronen. Verschiedene Milben, Asseln, Käfer und Fliegen können an Baumstämmen den dort häufig austretenden Pflanzensaft aufnehmen. Moos-, Flechten- und Algenbewuchs der Stämme bieten außerdem den darauf spezialisierten Milben und Wanzen Nahrung, in deren Gefolge diverse räuberische Arten auftreten. Durch Wasser, das aus den Baumkronen am Stamm herabläuft und das in Nischen oder Ritzen der Borke haftet, können die Baumstämme meist genügend Feuchtigkeit für die verschiedensten stammbewohnenden Arten zur Verfügung stellen. Baumstämme bieten somit einer verhältnismäßig artenreichen Lebensgemeinschaft Wohn- und Jagdgelände.
 
Noch reichhaltiger als die Stämme sind die Baumkronen mit Lebewesen besetzt, wo sich neben Pflanzensaft saugenden und blattfressenden Insekten und deren Räubern auch Vögel und Eichhörnchen einfinden. Sogar abgestorbene Baumstämme werden noch vielfältig genutzt. So besiedeln Höhlenbrüter hohle Baumstämme, die häufig bei Splinthölzern, zum Beispiel Weide und Linde, entstehen. Unter die sich allmählich vom Stamm lösende Borke wandern Holz fressende Käfer und deren Larven ein und der Holzkörper selbst wird in zunehmendem Maße von Fäulnis erregenden Bakterien und Pilzen besiedelt.
 
 Das Waldklima ist ausgeglichener als das der unbewaldeten Umgebung
 
Der Wald stellt seinen Bewohnern einen gegenüber dem Freiland deutlich gemilderten Klimaablauf zur Verfügung: Die Windgeschwindigkeit wird drastisch reduziert. Windstille und Beschattung lassen den von Bäumen umschlossenen Waldraum nicht mehr so stark austrocknen und die relative Luftfeuchte liegt in der Regel weit über derjenigen des Umlands. Die im Wald lebenden Pflanzen weisen deshalb nur spärliche Einrichtungen zum Verdunstungsschutz auf. Während des Sommers steigt die Temperatur unter dem Blätterdach selten über 20 ºC und im Winter sinkt sie nicht so tief wie auf dem freien Feld. Lediglich die obersten Bereiche der Baumkronen müssen mit ihren Blättern und Knospen den schärferen Klimaunterschieden der Umgebung angepasst sein. Hingegen unterliegt die Lichtintensität im Verlauf eines Jahres im Inneren des Waldes erheblichen Schwankungen. Im Frühling und im Herbst können in Bodennähe Lichtintensitäten von 16 000 bis 32 000 Lux erreicht werden, während es im Sommer bei voller Belaubung nur 1000 bis 4000 Lux sind.
 
Ein sommergrüner Laubmischwald produziert im Durchschnitt jährlich eine Biomasse von etwa 1200 g/m2. Bei der Nettoprimärproduktion sind die durch Atmung der Pflanzen entstandenen Photosyntheseverluste bereits abgezogen. Die artenreiche Fauna des Walds nutzt von den lebenden Pflanzen nur einen winzigen Bruchteil der Biomasse, wie folgende Zahlen zeigen: Von einem Baum entfallen ein bis zwei Prozent des Gesamtgewichts auf das Laub, der Rest steckt im Stamm und in den Wurzeln. Pflanzenfresser vertilgen jedoch nur fünf bis acht Prozent der Blätter. Dementsprechend bleiben über 99 Prozent der Biomasse der Waldbäume zunächst erhalten und werden erst nach dem Absterben und nach dem Laubfall durch Saprobionten abgebaut und remineralisiert. Das Niederschlagswasser verdunstet etwa zur Hälfte, 0,5 Prozent werden in der Biomasse gespeichert und der Rest, also knapp die Hälfte, versickert im Boden und ergänzt Grundwasserverluste, die während der Vegetationsperiode gelegentlich auftreten.
 
Prof. Dr. Günter Fellenberg
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Wald: Der Niedergang der mitteleuropäischen Wälder
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Ökosystem: Störungen und Regulation
 
Vegetationszonen: Vom Klima bestimmt
 
 
Hofmeister, Heinrich / Nottbohm, Gerd: Ökologie der Wälder. Stuttgart u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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